Schauspiel: Wahrscheinlichkeit Malen

Roland Scotti

Gemälde, Gemaltes anschauend überlege ich mir, ob ich Bilder sehe. Allenfalls Wirklichkeiten, Tarnungen, Darstellungen, Performances, Sentimentalitäten, Zustände – oder visuelle Tatsachen: Feststellungen beziehungsweise Befragungen des Sichtbarwerdens? Oder nichts davon – nur Spiegelungen meines Eigenen?
Wenn für mich die Bestimmung des Produktes »Bild« so rätselhaft ist, wie komplex muss die Herstellung eines Dinges, das wir als »Bild« bezeichnen möchten, dann erst für Künstlerinnen, Maler sein? Gerade, wenn es sich dabei um »Kunst-Malerei« handelt, also um etwas, das malerische Handlung beziehungsweise die Resultate des Malens dem kulturellen System Kunst (-geschichte) einschreiben will. Beides, die Produktion und die Rezeption, das Gestalten und das Erkennen, erscheinen aussichtslos. Aber voller Möglichkeiten!
Diese, die Eventualitäten, können sich erst entfalten, wenn das im Wesen Verschwommene der beschreibenden beziehungsweise kategorisierenden Begriffe, das Ungenügende der deterministischen Fach- und Bewusstseinssprachen – zumindest für einen Augenblick – sowohl von der Malerin als auch von mir ausgeblendet werden. Die tradierte, teils gegenwärtig herangetragene Begrifflichkeit und das vorgebliche Wissen werden zur Seite geräumt, um »Malerei« einerseits in die Welt zu bringen oder ihr auf eine Art und Weise zu begegnen, die eine spezifische Malerei, nämlich Farb-Malen, in ihrer unvermittelten Präsenz als eigenständige und doch normsetzende Kraft, als Wert wahrnimmt.

Trotz aller akademischen oder avantgardistischen Theoreme, die in den letzten Jahrhunderten aufgestellt, diskutiert, teils absolutistisch institutionalisiert wurden, ist Malerei (an sich und überhaupt) unabhängig von Zeitgeist, Diskurs, Gesellschaft und Entwicklungs- geschichte. Jedes gemalte Ding ist erst einmal eine apodiktische Setzung – gleich von wem, zu welchem Zeitpunkt und in welchem Kontext gemalt wurde: Ich bin, weil ich bin und das ist so. Mit dieser essentialistischen, vielleicht gar existentialistischen Ausgangslage müssen sich jene beschäftigen, die Malerei machen, Malerei sehen, Malerei beschreiben, Malerei als Medium der Künste realisieren oder rezeptieren wollen, können, müssen: Künstlerinnen, Theoretiker und Publikum; gelegentlich auch Anstreicher und Wandmalerinnen.

Alles andere, also jegliche Ableitung einer malerischen Manifestation von Personalbiografien, stilistischen, entwicklungsgeschichtlichen, gesellschaftspolitischen oder historischen Notwendigkeiten wäre kategorische Subjektivität und ahistorische Hybris: Zwar ziemlich erfolgreiche Fake News der Kunst- und Geschmacksgeschichte, aber doch eher Sache banalisierter und ästhetisierender Religio als eine der Realkunde. Malerei (an sich und überhaupt) ist ziellos und, im besten Sinne, zweck-, aber selten sinnlos – und in ihrer Plötzlichkeit immer sinnlich. Gleich, was interessierte Kreise meinen, behaupten und glauben: Jedes gemalte Ding, das Bild wird, ist Entäußerung, vom Ich emanzipierte Geste, pure Gegenwart, frei von Intention, befreit von Wissen und meist ohne Bildung – weder Impression noch Expression, ausschließlich Erscheinung, besser: Beschaffenheit mit Gestalt. Das war bereits um 1900 offensichtlich.

Wollte ich nun anerkennen, dass Malerei (an sich und überhaupt) grundsätzlich nonreferentiell ist, weder mimetisch noch abstrahierend, schon gar nicht selbstreferentiell sein kann, würde ich implizit billigen, dass folgerichtig jedes farbmalerische Objekt a-historisch, a-ästhetisch und a-piktoral sei – und ich würde gleich zu Beginn die (selten überzeitlichen, meist angewöhnten) Ideen und Erwartungen sowohl des malenden als auch des sehenden Subjekts ausblenden. Das singuläre piktorale Ereignis stünde für sich; nicht nur die Bilderzeugung, sondern jegliche Deutung, jede Nachdenklichkeit wären vergeblich, gar überflüssig.
Das gemalte Bild als »fait divers« ist allerdings inakzeptabel. Das käme – wie alle Fabrikationen des Zufalls oder einer künstlichen Intelligenz – einer Leugnung der menschlichen imaginativen Energie, obendrein unserer historischen und ästhetischen Erinnerung oder Erkenntnis gleich – bewusst- und gehaltlos, eine schwerwiegende Enttäuschung kultureller Hoffnungen.
Also von vorne: Warum will ich der Behauptung Doris Piwonkas folgen, dass ihre gemalten Dinge »Bilder«, mithin sinnvermittelnd, sinngebend seien? Wieso reizen die in diesem Buch abgebildeten, mit und in Farbe verwirklichten Modulationen die (meine) intellektuelle Sensibilität ebenso wie den (meinen) emotionalen Verstand? Wie meist verbergen sich die Antworten in den Fragen, denn was könnte verführerischer sein als die spekulative Rekonstruktion von Intentionalität bezie- hungsweise die geistreiche Konstruktion von Wahrheit – letztlich die kollaborative Transformation eines ursprünglich einsamen Malaktes in Allgemein-, in Kulturgut?
Wenig.
Meine Augen sehen: Leinwand und Keilrahmen, lückenhaft oder vollflächig bedeckt mit Farbe, Tempera, Öl, Pigment, Gesso; Pinselzüge, Klebspuren, Schwammbahnen, Waschungen, Abriebe, Tupfungen, Übermalungen, Transparenzen, Schichtungen, Durchblutungen, Nässe, Trocknungsgrate, gebrochene Textur. Ich entziffere von oben nach unten, von rechts nach links, vom Zentrum zu den Rändern Abfolgen von Aufbau und Zerstörung, einige Momente des Hinzufügens, aber vor allem jene des Wegnehmens oder Auslassens, ein vermeintliches Non-Finito. Ich erkenne Spuren von Zufälligkeiten, der reaktiven Inklusion außerbildnerischer Vorkommnisse und Fakten in das Bildgeschehen. Ich spüre pulsierendes Licht und bewege mich gelegentlich augenzwinkernd in rauchigen Korridoren. Noch viel
mehr Augeneindrücke könnte ich anführen und nacherzählen – optische Erlebnisse, aufgrund derer mein Verstand, den ich an dieser Stelle inneres Auge nenne, schließt: Zusammenklang von Plan und Gewirr.
Doris Piwonka lässt diese Sichtungen und Deutungen nicht nur zu; sie fordert von mir, von jeder Betrachterin, dass wir uns die Unsicherheit des Schauens, die physikalisch und psychisch bedingten Ambivalen- zen des Sichtbaren eingestehen. Können wir, ehrlich gesagt, absichtsvoll erzeugte, strukturell komponierte Materialität von willkürlicher oder redundanter Gestaltfindung unterscheiden? Nun: Die Künstlerin verweist in der vereinzelten Arbeit wie nebenbei, in der Mal-Folge hingegen absichtsvoll auf den Unsinn dieser in einem dualistischen Wirklichkeitsbild, einer binären Welterfassung verwurzelten Trennung von Ratio und Intuition, einer wertenden Scheidung von Konzept und Improvisation.
Sie zeigt, eigentlich: Sie realisiert das Ineinanderwirken verschiedenster bildgenerierender Methoden. Das geschieht auch dank der Kenntnis der jüngeren Kunstgeschichte, der malerischen, gar der a-malerischen Positionen seit Kasimir Malewitsch, Marcel Duchamp, der konkreten Künstlerinnen – oder der Nachkriegsabstraktionen bis hin zum »radical painting«, dem Kanon der »non-objective art«. Doch die handwerklichen Errungenschaften und die theoretischen Erkennt- nisse, verwurzelt im bipolaren, so zerstörerischen 20. Jahrhundert, werden zwar nicht marginalisiert oder gar negiert, sie werden von Piwonka souverän, in umfassender Gelassenheit überschrieben und gleichzeitig in einer eigenen Methodik, als informelle und informierende Forschung, ohne konzeptuell vorformuliertes Ziel weiterentwickelt. Weg von mehr oder weniger dogmatischen, sich in kurzen Abständen erschöpfenden Bildsystemen oder Gestaltungsmodellen, hin zur intelligenten Freiheit – Autarkie im Sinn einer selbstbestimmten und langfristigen Organisation bildnerischen Handelns, ein in Farbe aufgehobenes, sich überraschend erzeugendes Narrativ der Bildwerdung.

Die malerische, in Zeit eingebettete, performative Handlung Piwonkas beschreibt der Kurator David Komary 2020 so: »Ihre Werke basieren auf einer bewusst non-linearen Form des bildnerischen Prozesses. Die Künstlerin arbeitet nicht bloß stets an mehreren Bildern neben- einander, ein Bild kann auch zu einem späteren Zeitpunkt, teilweise Jahre später, weiterentwickelt, stellenweise gelöscht oder überarbeitet werden. Malerei bildet hier ein ästhetisches Handlungsfeld, um Fragen des ›Seins und Werdens‹ von Formen in Bezug zu ihrem Trägermedium, zu ihren grundlegenden Konstituenten (Farbe, Lein- wand, Keilrahmen), aber auch zum Einfluss des Umgebungsraumes zu stellen.« Das ästhetische Handlungsfeld »Malen« wird im Exerzitium kaum als Vehikel eines eigenen, im persönlichen Moment begründeten Aus- druckswillens missbraucht, eher bilden die malerischen Handlungsmöglichkeiten selbst die Grundlage der Formfindung. In gewisser Weise wird Piwonka zum Instrument. Ein Werkzeug, das sich selbst und seine Möglichkeiten wahrnimmt und über längere Zeit in einem Multilog reflektiert: Piwonka spiegelt das Tun im Machen – sie reagiert auf die Appelle des Materials, des Zeugs, das im ontologischen Sinn ein Bild konstituiert. Dabei interessiert sie sich aber kaum für Materialgerechtigkeit im kunsthistorischen Sprachgebrauch oder für logisch, rational begründete Konsequenzen, die zu leicht lesbaren, aber leblosen Gebilden führen würden. Piwonka beschäftigt der kontinuierliche, mehrdimensionale Prozess des Entscheidens. Im Werkprozess vertraut sie auf eine »partizipative Entscheidungsfindung«, auf den Austausch zwischen ihrer Seh-Erfah- rung (die übrigens unsere einschließt) und dem, was das Material als Möglichkeitsform im Handlungsraum, dem Geviert, selbst anbietet. Ihr »ästhetisches Handlungsfeld« ist wesentlich ein Raum-Gefüge, in dem eine endlose Kommunikation und Interaktion zwischen Ding und Bewusstsein ermöglicht wird. Resultate dieser multi-direktionalen Interaktion sind autopoietische Entitäten – denen ich/wir den Begriff »Bild« zuordnen. Komary ergänzt, klarsichtig, die genannten Akteure, Künstlerin und Materie, um weitere Handlungsträger, operationelle Mitspielerinnen – uns: »Der Betrachter sieht sich hier […] selbst beim Sehen zu und beim Beobachten, was ab welchem Zeitpunkt vom peripheren Geschehen zum ästhetischen Ereignis avanciert – und vice versa. […]. Ihre [Piwonkas] Arbeit verweist den Betrachter auf die schöpferische Kraft des eigenen Sehens; sie macht Sehen in seiner phänomenologischen Dimension als erkennendes und zugleich gestaltendes Instrument erfahrbar.«

Damit wären wir, wenn wir nicht in neurobiologische Gefilde auswandern möchten, bei Marcel Duchamps gegen jede retinal begründete Eindeutigkeit oder künstlerisch-individuelle Authentizität gerichtetes Diktum, dass ausnahmslos die Betrachterinnen, die Interpreten ein Bild, ein Kunstwerk fertigstellen würden. Das stimmt, falls wir der verbreiteten Vorstellung folgen, dass der Zweck aller »Bilder« sei, von außen betrachtet, berührt und benutzt zu werden, wie triviale Artefakte oder Waren. Vielleicht wollen sie, die Imaginationen, aber uneingeschränkt existieren – wie Felsen, Blumen, Tiere, Menschen? Und in ihrem So-sein von der Künstlerin und den Betrachterinnen als Gegenüber, als Eigenwelt gewürdigt werden?

Der Philosoph Markus Gabriel, einer der Begründer eines »Neuen Realismus«, erzählt eine Anekdote, weniger, weil er Kunst definieren möchte, eher, weil er auf divergierende Realitätswahrnehmungen verweist: »Jüngst erklärte sie [die dreijährige Tochter des Autors Gabriel] mir, die Fellfreunde aus ihrer Lieblingsserie hätten alles geschaffen, was es gibt, indem sie den Himmel blau angemalt hätten. Als ich sie fragte, ob die Fellfreunde sich auch selbst geschaffen hätten, antwortete sie umgehend mit ›Ja‹ und drückte dies gestisch […] so aus, dass sich die Comichunde selbst malen. Doch woher kommt die Farbe, die sie dabei verwenden? Nun, so erfuhr ich, diese würden sie eben auch malen. Die Farbe kommt durch das Malen in die Existenz, die insgesamt ein Gemälde ist. […]. Leben sei also gleich Farbe und Wirklichkeit gleich Ausmalen, ein interessanter Gedanke […].«

Möglicherweise entstammen die Arbeiten Piwonkas einem ähnlichen Zwischenreich, von einem Kind im Namen aller Fantasten geschildert. Wir begegnen in dieser Publikation migrantischen Farbwesen, ausgesiedelt in unsere Wahrnehmung. Eben keine Erzeugnisse aus der Hand eines die subjektive Absicht verwirklichenden, die Effekte kalkulierenden Genies, eben keine Produkte einer diktatorischen Fantasie, die aufgrund ihrer Handschrift, ihres Stils, ihrer Aussage – eben ihrer Eindeutigkeiten, ihrer Langweile – begreifbar und fassbar wären. Offenbar wollen sie, die Farbchiffren Piwonkas, nicht restlos verstanden und kaum als Teil einer kulturell definierten, als Kunst abgegrenzten Verfügungsmasse genutzt werden. Sie wollen ausschließlich in ihrer Besonderheit, in ihrer sich selbst erschaffenden Identität erblickt, erkannt werden. Das ist keine Metaphysik, sondern visualisierte Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Piwonka nutzt Parameter, genauer: sie versetzt, ähnlich einer behut- samen Regisseurin, Akteure in die Lage, das jeweilige Bildgeschehen mitzubestimmen. Ein Geflecht von bildhaften Eigenschaften und atmosphärischen oder retinalen Ereignissen kann während des Malprozesses berücksichtigt werden, muss aber nicht in jedem Fall mit und auf der Leinwand ausgeführt werden. Die Variablen öffnen der Künstlerin und dem Arbeitsmaterial in Kombination mit assoziativ oder spontan gefällten Handlungs-Entscheidungen malerische Möglichkeitsräume, die sich gleichen, aber nie gleichförmig sind. Da die technischen und zeitlichen Parameter dieses Malraums kaum aus der Kunstgeschichte, noch weniger aus hierarchischen, naturwissen- schaftlichen oder visuell-ästhetischen Systemen abgeleitet sind, könnte im Grunde jedes Phänomen, das optisch wahrnehmbare Spuren erzeugt, Teil der für uns sichtbaren Objekte werden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit »Bilder« genannt werden – selbst, wenn sie auf keinen Fall Darstellung, sondern Verkörperungen, Schauspiele sein wollen. Das sind sie und zeitweise sind sie es nicht; je nachdem, was wir als Sehende – wir sind keine Statisten – zulassen, dem Malen, das Gedankenarbeit und händische Meditation ist, aufmerksam folgend.
Also folge ich den visuellen Vorschlägen Piwonkas, mal kontemplativ gestimmt, mal in nervöser Intensität, kaum konditioniert: in den schwarzvioletten, zitronig blass-türkisen Warteraum (S. 1), zu den beige asphaltierten Gärten (S. 7), zur grüngelben, braunrot versunkenen Himmelsarchitektur (S. 15), hinaus in die graugrün rotschimmernde unendliche Spiegelfläche (S. 20), zur dunkel verdichteten Schwebezone über Azur, Kirschrot, Orange und Schwefel (S. 29), hinab in den erdig umbraschmutzigen, lichtererfüllten Trichter, an dessen Rand drei Blauzeichen auf den Sprung warten (S. 36), zum blutgefleckten Denkmal für den weißen Atem (S. 41), zur stillen Wolkendiskussion, bedroht von trüben Bewegungen und deren Schatten (S. 46), zum aufgerissenen, zerflatterten Schleier der Maya (S. 51), mit dabei die leiblich geträumte Wegbeschreibung, die in mannigfaltige Farbrichtungen weist (S. 55), durch das stahlblaue Eistor zu verlorenen Siegelringen (S. 56), die ich über dem Karmin als grün verdämmerten Widerschein angle (S. 63). Am rot markierten, schnell gereinigten Tatort lege ich eine Pause ein (S. 70), bevor ich wie »Hans- Guck-in-die-Luft« angesichts einer durchfeuchteten Buchlandschaft das innere und das äußere Gleichgewicht verliere (S. 75). Die Balance erlange ich inmitten sonnengezeichneter Nebelschwaden (S. 79), vorbei am Labyrinth der vermuteten, nur im Schlaglicht blinkenden Treppen (S. 83), heraus aus dem ultramarinen Sturm hinein in die rostige Wärme (S. 87), über nächtliche Wasser fliegen, auf denen Netze von Farbfischern wogen (S. 95). Von unten erklimme ich Olivleitern (S. 97), um zum Speicher aus Algen zu gelangen (S. 100); drei Musen breiten dahinter ihr dicht gegelbtes, nein blaugetränktes Gewebe aus (S. 109, 110). Ich passiere die Zone der halluzinogenen Freundschaften (S. 114), um im Rücken den Ausbruch der Abschweifungen zu spüren (S. 116). Kriechend erreiche ich, vorbei an petrifizierten Gesten, einen wattierten Saum, getröstet vom blauen Herz (S. 121) – gleich neben dem erbebten Grün, das nicht erröten will (S. 126). Oder doch, wenn mein Blick explodiert (S. 128), als kreiselnde, verblaute Gestalt zwischen den Farbwelten tanzt (S. 135).

Die Künstlerin Etel Adnan notiert im Jahr 2020, kurz vor ihrem Tod, einige Gedanken über Stille; Notate, die mich bei diesem Text begleitet haben – und die zum Reflex der Farbräume von Doris Piwonka wurden: »Fast alle meine Überzeugungen haben mich verlassen. Ich nehme es als eine Art Befreiung, und außerdem waren es nicht so viele. […]. Lass uns nur sein und stundenlang mit diesem pflanzlichen und metallischen Bewusstsein verschmelzen, das so übermächtig ist. […]. Wir befinden uns auf einem Planeten, von nichts gestützt, durch reinen Raum getragen von einem eigensinnigen Stern aus Feuer, in ständigem Aufwallen. Wir sind Reisende, die Reisegebiete durchqueren. Unterwegs, immer unterwegs.«

Jetzt sitze ich vor meinem Bildschirm am großen Fenster und schaue auf eine Landschaft in der Wintersonne. Ich sehe nichts – ausschließlich, glücklicherweise, eine der Farbwirklichkeiten von Piwonka.

Literaturhinweis
– Roland Scotti. Kunstkritik in Frankreich zwischen 1886 und 1905. Zwischen Sichtbarkeit und literarischer Spekulation (Texte zur Zukunft einer Kunst). Mannheim 1994 (S. 39ff., S. 62–65)
– David Komary. Self Similarity (Doris Piwonka/Josef Achrer). In: David Komary (Hg.). Position. Galerie Stadtpark, Krems 2020 (S. 139–146; bes. S. 142–145)
– Markus Gabriel. Liebe Kinder oder Zukunft als Quelle der Verantwortung
(= Briefe an die kommenden Generationen. Bd. 2), München 2023 (S. 28–29)
– Etel Adnan. Die Stille verschieben. Hamburg 2022 (S. 23, 25, 33; Übersetzung von Klaudia Ruschkowksi)

aus: Doris Piwonka, wahrscheinlich, erschienen im Ritter Verlag, Klagenfurt, 2024