Hat schon einmal jemand darüber nachgedacht, dass Raum etwas Eigenartiges ist? Bildraum? Natürlich. Sicher. Über alles wurde schon nachgedacht. In der Malerei – oder ganz allgemein in der Kunst – wird oft die Frage zum Kriterium gemacht, ob eine Sache schon oder noch nicht „zu Ende gedacht“ wird. Oder ob etwas „auf die Spitze getrieben“ wird. Immer wenn ich diese Argumente höre, muss ich unweigerlich denken: Ende? Spitze? Lasst mich bloß in Ruhe damit. Bitte nicht zu Ende denken. Lieber weiterdenken. Denn schließlich: Was soll man auf die Spitze treiben? Es gibt ja gar keine Spitze. Was wenn es aber Arbeiten und KünstlerInnen gibt, die mit den sogenannten Erwartungen an die Kunst operieren? Ich meine Arbeiten, die die Richtung verkehren. Und eine Künstlerin wie Doris Piwonka, die ein Bewusstsein dafür hat, welche Erwartung man von einem Bild haben könnte, dann aber einen unerwarteten Schwenk in eine andere Richtung vornimmt.
Genau diese Durchbrechung der Erwartung kennzeichnet die Arbeiten von Piwonka. Wir haben Erwartungen an Form und Farbe. Oder Erwartungen an bestimmte Verhältnisse. Dass diese Erwartungshaltungen vorhanden sind, wissen wir erst, wenn sie durchbrochen werden, weil sich dann eine leise Ratlosigkeit bei uns einschleicht. Diese Ratlosigkeit ist einerseits das befreiende Moment und andererseits auch notwendig, denn sonst würden wir schließlich in der immer gleichen Denk- oder Sehschleife festhängen.
Piwonkas Arbeiten haben für mich stets mit dem Experiment an der Malerei zu tun. Dadurch entsteht bei mir das Gefühl, ein Stück weit bei einem Prozess dabei sein zu können, wenn ich ein Bild betrachte. Was natürlich vollkommene Einbildung sein kann. Aber zumindest ist es eine interessante Einbildung. In einigen neuen Arbeiten werden die Verhältnisse von Form- und Farbraum genauestens gegeneinander abgewogen. Durch manche Bilder kann man „hindurchschauen“: Sie stellen sich einem nicht in den Weg, sondern lassen die BetrachterInnen passieren.
Obwohl die Formen durchaus reduziert erscheinen, ermöglichen sie eine lange Sicht „nach hinten“. Und wie sieht noch gleich eine Spirale aus? In anderen neuen Bildern mischt Piwonka auf geradezu freche Weise mehrere Formensprachen der Malerei, deren Mischung sonst gerne verboten wird. Einerseits gibt es ein Verhältnis von linearen zu bewegten Abstufungen, andererseits einen weichen, sehr vorsichtigen Farbraum, der unerwartet in einen sehr harten, kontrastreichen übergeht. Angedeutete Comicelemente treffen auf ineinandergreifende Farbschlieren. Gerade wenn der Blick es sich irgendwo gemütlich machen will, wird er in eine andere Richtung gelenkt. Diese Umkehrung kommt in den Arbeiten von Doris Piwonka oft vor: Zuerst schickt sie uns in eine Richtung, dann lotst sie uns wieder zurück, nur um uns dazu zu bringen, einen nochmals geänderten Kurs einzuschlagen. Das heißt auch: Zuerst hat man das Gefühl, „so ist es“, „das ist gemeint“, dann kommt man dahinter, dass es anders ist, und schließlich wird klar, dass auch die zweite Vermutung nicht stimmt und eine noch einmal ganz andere Dimension existiert. Das bedeutet für mich die Methode der durchbrochenen Erwartungen. Diese Methode liegt in der Struktur der Malerei begründet. Die Neugier gegenüber den Möglichkeiten der Malerei kann so etwas zum Vorschein bringen.
Was kann Malerei, wie weit kann man vordringen? Wie weit kann man ihr die Spitze abbrechen? Obwohl ich behauptet habe, es gibt sie nicht, lässt sich anscheinend doch ein Stück davon abbrechen: nicht eine Sache in der Malerei auf die Spitze treiben, sondern die Spitze abbrechen und sich dann die Brocken und Bruchstücke anschauen.
Die Durchbrechung von Erwartungen
Esther Stocker