Ein eher trauriger Aspekt der gegenwärtigen Malereidiskussion ist, dass dieses Medium sehr häufig nur noch als historisch beladenes Symptom gesehen wird, als gefrorener Bestandteil eines Diskurses, in dem seine einzig übrig gebliebene Bedeutung eben die ist, Malerei zu sein. Eine weitere Differenzierung wird hier gar nicht erst zugelassen. Die Auseinandersetzungen und Entwicklungen, die es in der Vergangenheit innerhalb der Malerei gegeben hat, also alles, was auch spezifische Züge und medienbezogene Elemente in sich trägt, scheint ausgeblendet bzw. durch ein bloßes Zitat ersetzt. Malerei kann in dieser Sichtweise nur einer kunsthistorischen Nostalgie oder einer konzeptuellen Strategie dienen, ist als Medium aber eigentlich tot, da ihre internen Strategien nur noch rückwärtsgewandt sind. Hier zieht sich das Medium in eine genießerische Ecke zurück, deren Referenzpunkte ruhig auch mal aus heutiger Sicht völlig reaktionäre Realismen sein können. Wer sich allerdings an diesen internen Strategien der Malerei weiter abarbeitet und nicht glaubt, dass diese am Endpunkt einer Moderne in einer monochromen Fläche zu einem Ende gelangt seien und daher im engeren Sinne künstlerisch nichts mehr zu holen sei, dem wird absurderweise in vielen Fällen Naivität oder gar eine reaktionäre Attitüde unterstellt. Und doch gibt es sie noch, eine kleine Szene, die sich unbeirrt mit den Problemen der Malerei und ihrer Geschichte beschäftigt und dabei immer Neues freilegt. Hier geht es um Fragen der Wahrnehmung und ihre immer veränderten Bedingungen im historischen Kontext. Dies bedeutet aber nicht, Malerei als abgeschottete Insel zu betrachten und die Tatsache zu ignorieren, dass sie ihren hegemonialen Status innerhalb der künstlerischen Medien eingebüßt hat. Diese Beschäftigung passiert mit den Mitteln der Malerei.
Doris Piwonkas Arbeiten sind ein herausragendes Beispiel für dieses Weiterverfolgen eines Diskurses und das Vorhandensein der Möglichkeit, dabei ständig neue Ergebnisse zu generieren. Durch ihre Malerei ziehen sich konzentrierte Stränge von Problemfeldern, die von Farbflächen zu Strukturen und Überlagerungen führen und diese immer neu kombinieren. In den älteren Bildern sind es zunächst amorphe, monochrome Umrisse, die auf einem ebenfalls monochromen Hintergrund stehen. Was beim ersten Hinschauen klar und einfach wirkt, wird bei näherer Betrachtung zunehmend komplexer. Dann nämlich wird die rechteckige Leinwand zum Raum, auf oder in dem einer Skulptur gleich ein abstrakter Gegenstand zu stehen scheint. Dieser Effekt wird nicht durch eine tatsächliche skulpturale Erweiterung der Leinwand erreicht, sondern durch die Positionierung des Farbfeldes, das irgendwie in der Zweidimensionalität des Tafelbildes nicht zur Ruhe zu kommen scheint. Obwohl man beim ersten Blick sicher ist, derartige Kompositionen schon oft und über eine lange Geschichte der Moderne hinweg gesehen zu haben, entwickelt sich durch minimale Veränderungen eine Spannung, die Aspekte einer künstlerischen Vergangenheit – etwa des Übergangs von abstraktem Expressionismus zu minimalistischer Malerei – zu einem neuen Leben erweckt. Piwonka gibt hier nicht dem Druck nach, radikale Neuerfindungen machen zu müssen, sondern dreht gleichsam ganz zart an den Schrauben eines komplexen Räderwerks, um mit kleinen Abweichungen letztendlich große Effekte zu erzeugen, die aber im historischen Kontext noch größer wirken.
Diese Strategie gewinnt mit den Jahren zunehmend an Komplexität. Wie Versatzstücke werden mehr und mehr malerische Mittel in die Bilder aufgenommen, die isoliert gesehen nichts Neues sein wollen, aber durch ein stetiges An- und Umordnen den Eindruck des bereits Gesehenen überschreiben und so beginnen, eine frische Kraft und Eigenständigkeit auszustrahlen. Durch die Überlagerung verschiedener visueller Konzepte wird immer wieder die Unterteilung zwischen Vordergrund und Hintergrund aus dem Lot gebracht, genauso wie jene zwischen Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit oder zwischen Schärfe und Unschärfe oder zwischen Innerhalb und Außerhalb des Bildes. Beim Betrachten der Arbeiten wird so ein wiederkehrender Mechanismus in Gang gesetzt: In einem ersten Durchgang meint man, die Bilder vollständig und schnell erfassen zu können, doch später kristallisieren sich die Spannungen und Verschiebungen heraus, die die Qualität der Werke ausmachen. An allen Ecken und Enden werden wir daran gehindert, aus dem Bild ein gleichmäßiges Ganzes, in sich Geschlossenes zu extrahieren und so das Gesehene als bekannt ablegen zu können. Wenn beispielsweise weiße geometrische Spitzen vom Bildrand aus in ein fleckiges, unscharfes Farbfeld hineinragen, entsteht eine Komposition, die keinen Anfang und kein Ende hat und in der das Bild auf diese Weise zu einer reinen Idee wird und seine Objekthaftigkeit in einer viel radikaleren Weise überwindet, als dies bei der amerikanischen Malerei Mitte des letzten Jahrhunderts der Fall war. Statt Reduktion werden hier Überlagerung und Ungleichgewicht ins Spiel gebracht, und die Überwindung der Objekthaftigkeit geschieht genau dadurch, dass das Objekt in der Wahrnehmung auftaucht, um unmittelbar wieder zu verschwinden.
In den neuesten Bildern von Doris Piwonka wird das alte Problem von Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit wieder stärker thematisiert. Das Inventar scheint sich zunächst nicht wirklich verändert zu haben: Amorphe bis geometrische Formen sind auf der Leinwand abgebildet und kontrastieren zumindest farblich stark mit dem Hintergrund. Aber dann werden noch weitere Dimensionen ins Bild gebracht. Fast wie durch eine Lasur wird die Deutlichkeit der frühen Bilder wieder teilweise zum Verschwinden gebracht, aber nicht ganz, weil sie ja jederzeit durch unser Bildgedächtnis mit seinen Referenzen wieder abrufbar ist. Diese Oberfläche vermischt sich dann auch wieder mit der untersten Schicht, sodass die abstrakten monochromen Formen irgendwo in einem Zwischenbereich landen. Durch diese Oberfläche kommen aber auch gestische Momente ins Spiel, die wir mit einer ganz anderen Form von Malerei verbinden. Dieses Nebeneinander (bzw. Über- und Untereinander) einer gestisch expressiven und einer abstrakt minimalistischen Formensprache rollt das alte Abstraktionsproblem neu auf. Beide Verfahrensweisen sind ja klassische Strategien der Abstraktion im zwanzigsten Jahrhundert. Ihr Nebeneinander löst aber nun gewissermaßen den gerichteten Weg vom Figurativen zum Nichtfigurativen auf. Die Geste und der expressive Pinselstrich erzählen hier eine andere Geschichte als die von der Verflachung auf den Umriss, seiner Monochromie und der schrittweisen Verformung des Umrisses zur abstrakten Form. Beide Geschichten in ein und demselben Bild führen dazu, dass der viel zitierte Effekt, hinter jeder Abstraktion perzeptiv eine Figur zu rekonstruieren, blockiert ist. Die Rekonstruktion funktioniert deshalb, weil wir beim Betrachten und in Kenntnis einer künstlerischen Strategie aus unserem visuellen Gedächtnis eine wenn auch phantastische Figur ins Bild lesen können. In Piwonkas Bildern ist dieser Modus der Rezeption nicht mehr möglich, da ein Weg zwischen zwei Strategien vorgezeichnet ist. Der andere Weg ist durch diesen innerhalb der Malerei stattfindenden Medienmix gelöscht. Wichtig ist hier auch, dass Piwonkas Verfahren nicht offensichtlich an der Oberfläche liegen, sondern sich immer erst über eine gewisse Zeitspanne hinweg erschließen lassen. Diese Malerei ist nicht kontemplativ, sie legt ihre Spannungen aufgrund ihrer Komplexität erst allmählich frei. Überlegungen zur visuellen Perzeption werden in einer sehr klugen Weise mit historischen Referenzen zusammengebracht, was ein unmittelbares Lesen der Bilder unmöglich macht. Hier zeigt sich aber eben auch ganz deutlich, dass das Medium Malerei keineswegs ausgereizt ist oder nur noch als Spielwiese für rein historische Referenzen dienen kann, in denen die Aspekte der Perzeption zweitrangig werden. Malerei kann also leben, wenn sie nur will.
Martin Prinzhorn, 2011